Meister Eckhart von Hochheim

Alles, was Gott gefällt, das gefällt ihm in seinem eingeborenen Sohn; alles, was Gott liebt, das liebt er in seinem eingeborenen Sohn. Nun soll der Mensch so leben, daß er eins sei mit dem eingeborenen Sohn und daß er der eingeborene Sohn sei. Zwischen dem eingeborenen Sohn und der Seele ist kein Unterschied. ... Wollte ich Gott ansehen mit meinen Augen, mit jenen Augen, mit denen ich die Farbe ansehe, so täte ich gar unrecht daran, denn dieses Schauen ist zeitlich; nun ist aber alles, was zeitlich ist, Gott fern und fremd. Nimmt man Zeit, und nimmt man sie auch nur im Kleinsten, im "Nun", so ist es doch noch Zeit und besteht in sich selbst. Solange der Mensch Zeit und Raum hat und Zahl und Vielheit und Menge, so ist er gar unrecht daran und ist ihm Gott fern und fremd. Darum sagt unser Herr: Wer mein Jünger werden will, der muß sich selbst lassen (Luk 9,23); niemand kann mein Wort hören noch meine Lehre, er habe denn sich selbst gelassen. ...

 

Ich sagte einst, daß Gott die Welt JETZT erschafft, und alle Dinge sind gleich edel in diesem Tage. ... Gott schafft die Welt und die Dinge in einem gegenwärtigen Nun, und die Zeit, die da vergangen ist vor tausend Jahren, die ist Gott jetzt ebenso gegenwärtig und ebenso nahe wie die Zeit, die jetzt ist. Die Seele, die da steht in einem gegenwärtigen Nun, in die gebiert der Vater seinen eingeborenen Sohn, und in derselben Geburt wird die Seele wieder in Gott geboren. Das ist eine Geburt: So oft sie wiedergeboren wird in Gott, so oft gebiert der Vater seinen eingeborenen Sohn in sie. ...

 

Wenn der Seele ein Kuß widerfährt von der Gottheit, so steht sie in ganzer Vollkommenheit und Seligkeit; da wird sie umfangen von der Einheit. Im ersten Berühren, in dem Gott die Seele als ungeschaffen und unerschaffbar berührt hat und berührt, da ist die Seele der Berührung Gottes nach ebenso edel wie Gott selbst. Gott berührt sie nach sich selbst. ...

 

Aus: Meister Eckhart. Deutsche Predigten und Traktate, Hrg. J. Quint, München: Carl Hanser, (3)1969
(Aus Predigt 11 «Diebus suis placuit deo et inventus est iustus» (Eccli. 44, 16/17):