Als es nach der Konventsmesse Morgen ward und er traurig in seiner Zelle saß und über diese Dinge nachdachte und ihn fror, denn es war Winter -, vernahm er irgendeine Stimme in seinem Innern: Tu das Fenster auf, schau und lerne! Er öffnete es und blickte hinaus: Da sah er einen Hund, mitten im Kreuzgang, der hatte ein verschlissenes Fußtuch im Maul und spielte damit auf seltsame Weise: Er warf es in die Höhe und wieder zu Boden und zerrte Löcher hinein. Er blickte auf, seufzte von Herzen, und ihm erklang die Stimme in seinem Innern: Solch ein Spielzeug wirst du in deiner Brüder Gerede werden. Da gedachte er bei sich selbst: Da es doch nicht anders sein kann, so gib dich darein und schau nur, wie sich das Fußtuch schweigend so übel behandeln läßt: das tu du auch! Er ging hinab, nahm das Tuch an sich und behielt es viele Jahre als teures Kleinod; und wollte die Ungeduld ihn übermannen, so holte er es hervor, damit er sich selbst daran erkenne und jedem gegenüber Schweigen bewahre. Wenn er etwa seinen Blick voll Verachtung ein wenig abgewandt hatte von einigen, die ihn bedrängten, tadelte ihn eine innere Stimme, die also sprach: Bedenke, daß ich dein Herr, mein schönes Antlitz nicht von denen abwandte, die mich anspien. Sein Verhalten gereute ihn dann sehr, und er wandte sich jenen wieder freundlich zu. Zuerst, wenn ein Leid auf ihn viel, gedachte er bei sich: Ach, Gott, wann wird dies Leid zuende sein, daß ich davon befreit bin! Da erschien ihm am Tage Mariä Lichtmeß das Jesuskind, tadelte ihn und sprach: Du verstehst noch nicht zu leiden, ich will dich lehren. Sieh, wenn du leidest, sollst du nicht auf die Beendigung des gegenwärtigen Leidens schauen, indem du denkst, seiner ledig zu werden. Du sollst dich derweilen, während ein Leiden andauert, darauf vorbereiten, ein zweites Leiden geduldig anzunehmen: das gehört dazu. Du sollst dich wie ein Mädchen verhalten, das Rosen pflückt; bricht sie eine Rose vom Stauche ab, so genügt ihr das noch nicht, sie nimmt sich vor, noch mehr zu pflücken. So tu auch du: Bereite dich darauf vor, daß, wenn ein Leiden ein Ende hat, dir geschwind ein anderes begegnet.“
(Vita, 20. Kapitel). - Die Vision des Jesuskindes zeigt uns aber noch mehr: Der Antrieb zu seiner Gelassenheit liegt in seiner innigen Liebe zu Christus begründet.
G. Jerger zeigt in seinem Büchlein, wie unendlich leidend H. Seuse gewesen sein muß angesichts vieler Torheiten in seiner Zeit, Unrecht, Gewalt, Verkehrung der Religion. Er zeigt, in welch innigst-zentraler Weise es wichtig ist, durch den Blick auf die Leiden Christi, in denen sich geistlich die Faktizität alles Leidens aufgipfelt, zu schweigen, zu meditieren, nicht zu widerstehen (Gewaltfreiheit nach der Bergpredigt Jesu Christi), ja die Leiden zu sammeln wie Rosen, die dann durch Gott zu einem wunderschönen Gebinde zusammengefügt werden.
Der Autor macht deutlich, wie auch wir heutigen Menschen, angesichts des Üblen in der Welt, auch solchen Übels, das uns persönlich widerfährt - mit der Ratlosigkeit und dem Leiden an unserem Menschsein mit all den Abgründen - die Leiden transformieren können in eine Wirklichkeit hinein, die von großer Schönheit ist, indem wir die Leiden annehmen und auf das Antlitz des unendlich leidenden Erlösers schauen.
Damit sind solche Leiden gemeint, die übrigbleiben, etwa bei einer Krankheit: Sie selbst mag geheilt worden sein, jedoch bleibt immer ein Rest zurück, eine schmerzliche Erinnerung vielleicht; oder der furchtbare Hunger und die Gewaltanwendungen in der Welt: Wir können politisch, karitativ usw. dagegen anarbeiten und sollen es auch, und dennoch bleibt Schmerz.
D.h. es geht in der Leidens-Mystik keineswegs darum, sich sein Leiden zu suchen oder gar zuzufügen (wie man es gelegentlich in früheren, verkehrt-asketischen Traditionen glaubte), sondern das unabwendbare und nicht behebbare Leiden BEWUSST zu tragen, es anzunehmen und es mit Blick auf den Erlöser aller Welten und Lebewesen hineinnehmen zu lassen in eine Transformierung alles Leidens hinein in letztgültige Erlöstheit. In dieser wird es keinerlei Leiden mehr geben (s. Offb.).
H. Seuse ist ein Mystiker der Gelassenheit. Indem er das frühchristliche „Fuge Tace Quiesce“ (= Fliehe, schweige, ruhe in Gott) zusammen mit der Leidens-Mystik erlebte und erstrebte, schaute er eine höchste Form der Gelassenheit der Seele, die geborgen in Gott den Lebensweg geduldig durchschreiten kann.
(Folgt weiteres.)
Die Seele gleicht einer leichten Flaumfeder: wenn sie kein Festhalten verspürt, wird sie aus ihrer natürlichen Beweglichkeit leicht in die Höhe zum Himmel hochgetragen; wenn sie aber mit irgend etwas beladen ist, so sinkt sie nieder. Ebenso wird ein von schwerer Kümmernis geläutertes Gemüt mit Hilfe geistlicher Betrachtung wie von seinem natürlichen Adel leicht zu himmlischen Dingen hinaufgehoben.
Die ewige Weisheit spricht:
Das ist ein würdiges Lob vor meinen göttlichen Augen, dass du mich von Herzen mit Worten und Werken innig lobest im Leide wie in der Freude, in aller Widerwärtigkeit ebenso, wie wenn es dir am allerbesten geht. Denn dann meinst du mich und nicht dich.
Herr, ich erkenne wohl, dass ich wegen meiner Sünden lieber flehen sollte als dich loben; aber dennoch, verschmähe nicht, von mir gelobt zu werden. Herr, wenn dich nun Serafim und Kerubim und die große Zahl der hohen Geister alle nach ihren besten Kräften loben, was können sie damit mehr ausrichten an deiner Herrlichkeit, die kein Lob ermessen kann, als die allerkleinste Kreatur?
Ich gehe durch Himmel und Erdreich, die Welt und den Abgrund, Wald und Heide, Berg und Tal: sie alle zusammen singen mir zu den herrlichen Gesang deines Lobes, Herr. Wenn ich dann sehe, wie unbegreiflich schön du alle Dinge ordnest, die schlechten und die guten, so werde ich wortlos, Herr, wenn ich aber daran denke, dass du der bist, den meine Seele auserwählt hat, so möchte mein Herz vor Loben zerspringen.
So spricht die Ewige Weisheit:
Siehe, die kleinste Gabe, die von mir ausgeht im Sakrament, hat in Ewigkeit einen stärkeren Widerglanz als der wirkliche Sonnenschein. Sie ist leuchtender als der Morgenstern, sie schmückt dich prächtiger in ewiger Schönheit, als je die sommerliche Pracht das Erdreich geschmückt hat.
Die ewige Weisheit spricht:
Du hast mich in dem Sakramente (der Eucharistie) vor dir und bei dir wahrhaftig und eigentlich als Gott und Menschen, als Seele und Leib, mit Fleisch und Blut, so wahr mich meine reine Mutter in den Armen trug und so wahr ich im Himmel bin in meiner vollkommenen Klarheit.
Literatur:
Heinrich Seuse: Deutsche mystische Schriften, aus d. mittelhochdtsch. übertr. u. hrg. v. Georg Hofmann, Nachdr. der 1. Aufl. v. 1966 mit einer Hinführung v. Emmanuel Jungclaussen, Düsseldorf: Patmos 1986.
Jakobus Kaffanke (Hg.): Heinrich Seuse - Diener der Ewigen Weisheit, Freiburg: Kath. Akademie der Erzdiözese Freiburg, 1998.
Hans-Jürgen Baden: Das Erlebnis Gottes. Was bedeutet uns die Erfahrung der Mystik?, Freiburg 1981.